„Obama muss sich für Hiroshima nicht entschuldigen“

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Barack Obama besucht als erster US-Präsident Hiroshima. Die Atombomben-Abwürfe bestimmen laut Japan-Forscher Ian Buruma die Weltsicht der Japaner bis heute. Der Grund sei das „Dresden-Argument“.

An diesem Freitag wird Barack Obama als erster amtierender amerikanischer Präsident das japanische Hiroshima besuchen – die erste Stadt, die 1945 durch eine Atombombe verwüstet wurde. Unser Autor sprach mit dem Schriftsteller und renommierten Japankenner Ian Buruma über das traumatische Ereignis einer Nation. Buruma ist Professor für Menschenrechte und Journalismus am Bard College im Staat New York.

Die Welt: Am Freitag wird Barack Obama als erster amtierender US-Präsident Hiroshima besuchen. Erstaunlich ist, wie sich die Einstellung der Amerikaner im Laufe der Zeit zum Atombombenabwurf geändert hat. Nur noch eine knappe Mehrheit von 57 Prozent hält ihn für gerechtfertigt, direkt nach dem Krieg waren es noch 85 Prozent.

Ian Buruma: Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass er zu einem sensibleren Thema geworden ist und dass die Gefühle der Kriegsgeneration langsam verschwinden. Es ist also heute einfacher, auch andere Meinungen zuzulassen.

Die Welt: In Amerika hat es einen echten Historikerstreit über den Bombenabwurf gegeben. Die klassische Interpretation folgte dem Argument des damaligen Präsidenten Harry Truman, wonach der Abwurf der Bomben zwar viele Menschenleben gekostet habe, aber eben viele weitere Kriegstote auf beiden Seiten verhinderte. Die revisionistische Schule hingegen behauptet, Japan habe ohnehin kurz vor der Kapitulation gestanden, und der Abwurf habe vielmehr die Sowjetunion raushalten sollen aus dem Krieg in Asien. Wo stehen Sie in dieser Frage?

Buruma: Ich denke, wir können das nicht mit Sicherheit wissen. Es war damals eine sehr chaotische Periode. Truman war neu im Amt, er wusste nicht sehr viel über Atombomben. Und was die Japaner anbelangt, so ist sehr schwer zu sagen, was sie zur Kapitulation bewegte. Um sich zu ergeben, brauchten sie Einstimmigkeit im Kriegskabinett. Und die erreichten sie nur, weil der Kaiser am Ende für die Kapitulation war und die Hardliner nachgaben. Das war nach Nagasaki. Es ist nicht notwendigerweise wahr, dass die Atombombe ihnen diese Entscheidung abnahm. Denn dann hätten sie schon nach Hiroshima aufgeben können. Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass die Japaner selbst Angst hatten vor einer sowjetischen Invasion und dass sie sich – ähnlich wie viele Deutsche – lieber den USA als der Sowjetunion ergeben wollten. Die Atombombe gab den Hardlinern einen Vorwand, um zu kapitulieren. Sie konnten so behaupten, nicht in einem konventionellen Krieg besiegt worden zu sein, sondern von Waffen, gegen die man sich nicht verteidigen konnte. In gewisser Weise hat die Atombombe ihnen geholfen, zu dieser Entscheidung zu finden. Aber wichtiger war wohl, dass sie kapitulieren wollten, bevor die Sowjets eine Invasion Japans beginnen konnten.

Die Welt: Hiroshima ist für die Japaner zu einem universellen Symbol für die Unsinnigkeit des Krieges geworden. Aber indem es die japanische Opferrolle im Krieg betont, werden andererseits die japanische Aggression in Asien und seine Kriegsverbrechen in den Hintergrund gedrängt. Darüber haben sie in ihrem Buch „Erbschaft der Schuld“ geschrieben. Wie kam es dazu?

Buruma: Ich habe das Buch vor einiger Zeit geschrieben, seitdem haben sich die Dinge ein wenig verändert. Es ist nicht ganz fair zu sagen, dass Hiroshima für Japans Opfertum steht, es symbolisiert vielmehr den Pazifismus und wirbt dafür. Deshalb ist das Symbol Hiroshima im Kalten Krieg vor allem von der Linken unterstützt worden. Das gilt auch für Nagasaki. Wenn man sich die Denkmäler im dortigen „Friedenspark“ anschaut, dann sind die meisten von ihnen von Ostblockstaaten gestiftet worden wie der Tschechoslowakei, Polen, der DDR, der Sowjetunion, Kuba und so weiter. Es war also Teil der Friedensfront gegen den sogenannten US-Imperialismus. Die Rechte hingegen versuchte die Atombombenabwürfe als Gegengewicht zu den Kriegsverbrechen zu sehen, die Japaner begangen hatten. Sie werden also in einer Weise gesehen, die der ähnelt, wie manche deutsche Rechte Dresden sehen. Im Sinne von: „Okay, wir haben schlimme Dinge getan, aber Nagasaki und Hiroshima waren noch viel schlimmer, es gibt also keinen wirklichen Grund für Japan, sich besonders schuldig zu fühlen.“

Die Welt: In Japan hat man also nicht zu einer gemeinsamen Erinnerungskultur gefunden?

Buruma: Auf beiden Seiten ist das eine sehr politisierte Frage, es geht in Wirklichkeit um den Charakter Nachkriegsjapans und besonders um die pazifistische Verfassung. Die Linke und die Mitte, noch immer eine Mehrheit der Japaner, verteidigen in der Regel den Pazifismus, indem sie sagen: „Schaut, was passierte, als wir in den Krieg gezogen sind. Wir haben nicht nur Gräueltaten begangen, sondern wir sind auch für sie bestraft worden mit den Atombomben, und deshalb müssen wir immer eine pazifistische Nation bleiben.“ Und solange sie das sagen, müssen die Konservativen, die die japanische Souveränität bezüglich des Gebrauchs von militärischer Gewalt wiederherstellen wollen, argumentieren, dass Japan sich nicht besonders schuldig fühlen muss, weil alle Kriege furchtbar sind und Japans Kriege nicht anders waren als die anderer Länder. Und deshalb sollten sie die Möglichkeit haben, die Verfassung zu ändern. Die Debatte über Hiroshima und den Krieg hat zu einer politischen Polarisierung geführt, die es in Deutschland so nicht gegeben hat.

Die Welt: Warum hat Japan, und besonders die von der konservativen Partei beherrschte Politik, so viel Schwierigkeiten, Japans Kriegsschuld anzuerkennen, etwa das Massaker von Nanking, das aus vielen Schulbüchern fast gänzlich verschwunden ist. Und welche Rolle spielt Hiroshima dabei?

Buruma: Leute auf der Linken, die Hiroshima und Nagasaki als Friedenssymbol sahen, haben japanische Gräueltaten nicht geleugnet. Sie sahen die Atombombenabwürfe als eine Form der Rache, aber auch als eine unvermeidbare Folge der japanischen Aggression. Dass das eine das andere verdrängt, ist also weniger auf der Linken zu beobachten als eher auf der Rechten. In Japan ist aber etwas passiert, was auch in der restlichen Welt passiert ist: Die Linke hat weitgehend ihre Stimme verloren. Rechtsgerichteter Nationalismus in Japan wurde immer ausbalanciert durch linke und sogar marxistische Geschichtsauslegung, die japanische Verbrechen nicht leugneten. Da die Linke viel an Einfluss verloren hat, wurden die Stimmen auf der Rechten und der Nationalisten immer lauter. Es gibt also nicht einen japanischen Blick darauf. Es gibt auch viele unterschiedliche Geschichtsbücher, unter denen die Schulen auswählen können. Durch die Schwäche der Linken gibt es aber heute in Japan weniger Schuldgefühle über den Krieg.

Die Welt: Die Politik in Japan wird weitgehend von der konservativen Partei, der LDP, dominiert. Warum ist es für diese Politiker so schwer, japanische Schuld anzuerkennen und sich dafür zu entschuldigen, wie es etwa Deutschland getan hat?

Buruma: Es gab mehrere Regierungen, die sich entschuldigt haben, besonders in den kurzen Perioden, in denen es keine LDP-Regierung gab. Es ist aber tatsächlich ein Problem in der konservativen LDP, weil die einen starken nationalistischen Flügel hat. Dazu kommt, dass der Krieg selbst sehr viel schwerer zu bewerten ist. Wenn man in Deutschland über Vergangenheitsbewältigung redet, dann spricht man nicht über die Invasion von Norwegen, sondern über den Holocaust. Es ist nicht schwer, in Deutschland einen Konsens zu finden, der die systematische Ausrottung einer ganzen Bevölkerung aufgrund einer Ideologie verurteilt. Im Fall von Japan gibt es nichts, was dem ähneln würde. Der japanische Krieg war brutal, besonders in China. Aber es handelte sich in vielerlei Hinsicht um den Krieg einer imperialen Macht gegen andere imperiale Mächte. Es gab viele Kriegsverbrechen, aber nichts, was dem Holocaust nahe kommt. Das macht es sehr viel schwieriger, zu einem Konsens zu finden in der Bewertung des Krieges.

Die Welt: Welche Rolle spielt Hiroshima, jenes Desaster, das Japan am Ende des Krieges heimsuchte, dabei?

Buruma: Nur in dem Sinne, dass es dadurch einfacher wird für Leute zu sagen: „Ja, wir haben furchtbare Dinge getan, weil Krieg furchtbar ist. Aber was uns passierte, ist sogar noch schlimmer gewesen, deshalb müssen wir uns nicht besonders schuldig fühlen.“ Es macht die Dinge also komplizierter. Man kann das Dresden-Argument im Fall von Hiroshima und Nagasaki also einfacher benutzen, weil es sich um Atombomben handelte.

Die Welt: Im Licht dieser komplizierten Erinnerungskultur in Japan – ist es da eine weise Entscheidung von Barack Obama, als erster amtierender US-Präsident Hiroshima zu besuchen?

Buruma: Ich denke schon. Der Kalte Krieg existiert nicht mehr in derselben Form wie früher. Wenn man heute nach Hiroshima geht, dann befördert man nicht mehr die Friedensbewegung, die den Ostblock unterstützte, weil der schlicht nicht mehr existiert. Und für einen Präsidenten, der als langfristiges Ziel die Abschaffung von Atomwaffen anstrebt, ist das nicht der falsche Ort. Und es steht einem amerikanischen Präsidenten auch gut an, dort über etwas nachzudenken, was im Grunde ein furchtbarer Akt des Krieges war. Moralisch gesehen stellt sich jedoch die Frage, ob es einen großen Unterschied gibt zwischen dem Abwurf einer Atombombe und dem Abwurf anderer Bomben auf Zivilbevölkerungen. Manche Leute sagen Ja, weil die Folgeeffekte länger anhalten in Form von Krankheiten etwa. Andere sagen, und dazu zähle ich mich selbst, dass die moralische rote Linie, die nie hätte überschritten werden dürfen, darin bestand, gezielt Bomben auf die Zivilbevölkerung abzuwerfen, um ihre Moral zu brechen. Im Zweiten Weltkrieg hat das mit den deutschen Bombardements auf Warschau und Rotterdam begonnen und dann folgten die alliierten Bombardements von Hamburg und anderen deutschen Städten und dann Japan.

Die Welt: Manche Historiker sagen über Trumans Entscheidung, Atombomben abzuwerfen sei damals nicht als so großer Unterschied erschienen gegenüber dem, was sie schon in Tokio und anderen Städten getan hatten.

Buruma: Ich denke, das stimmt. Wenn man die Zahl der Opfer betrachtet, dann trifft das ebenfalls zu. Die Feuerbomben auf Tokio waren mindestens so zerstörerisch wie Hiroshima und Nagasaki. Der einzige Unterschied war, dass es im letzteren Fall je eine einzige Bombe war, die so furchtbare Zerstörung anrichtete.

Die Welt: Was soll Obama nun in Hiroshima sagen? Kann er einerseits die vielen japanischen – und auch koreanischen – Zivilopfer beklagen und andererseits auch das konservative japanische Narrativ herausfordern, das mit Hiroshima verbunden ist?

Buruma: Ich denke, es ist nicht die Aufgabe des amerikanischen Präsidenten, den Japanern zu sagen, wie sie ihre Geschichte verstehen sollen. Das ist eine japanische Angelegenheit. Er kann diese Gelegenheit jedoch nutzen, vor dem Gebrauch solcher Waffen zu warnen. Er muss nicht sehr viel weiter gehen als das.

Die Welt: Man kann das aber auch von einem strategischen Gesichtspunkt her betrachten. Die anhaltende Skepsis in Asien über Japan und das, was als nicht ausreichende Aufarbeitung japanischer Aggressionspolitik gesehen wird, schafft auch Probleme für die USA. Denn das macht es sehr viel schwieriger, eine Allianz mit Japan und anderen prowestlichen Regimen in Asien gegen das zunehmend aggressiv auftretende China zu schmieden.

Buruma: Nun, diese japanische Regierung ist sicher nationalistisch und revisionistisch. Aber japanische Regierungen haben sich in der Vergangenheit bei ihren Nachbarn entschuldigt, und ich bin mir nicht sicher, ob es richtig ist zu verlangen, dass jede japanische Regierung sich immer und immer wieder entschuldigen muss. Es könnte auch den gegenteiligen Effekt haben, wenn ein amerikanischer Präsident den Japanern öffentlich sagt, wie sie ihre eigene Geschichte zu interpretieren haben. Das würde die Ablehnung rechtsgerichteter Japaner verstärken, die sagen werden, warum sollen andere uns erzählen, was wir zu denken haben. Obama kann jedoch auf diskrete Weise, und nicht in der Öffentlichkeit, die japanische Regierung drängen, versöhnlichere Positionen einzunehmen, um die Allianz mit Südkorea und anderen südostasiatischen Nationen stabiler zu machen.

Die Welt: Sollte Obama sich für die Atombomben entschuldigen?

Buruma: Nein. Ich glaube nicht, dass er das politisch kann. Und ich bin auch kein großer Anhänger öffentlicher Entschuldigungen. Ich denke, es gibt seltene Ausnahmen, in denen das effektiv sein kann, etwa Willy Brandts Kniefall in Warschau. Ansonsten halte ich es für zu einfach, sich bloß zu entschuldigen. Seit dem Bombenabwurf sind schon drei Generationen vergangen, ich sehe da keinen großen Verdienst in einer Entschuldigung. Der Holocaust war die Auslöschung eines Volkes aus ideologischen Gründen, Hiroshima hingegen war immer noch ein kriegerischer Akt. Es gibt also auch weniger Grund für Obama, sich dafür zu entschuldigen.

@die welt

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